Ich schlafe erst einmal gemütlich aus und da Vivy aus Finnland sowie Rania & Cathleen zwischenzeitlich ja abgereist sind und das Poshtel durch die Neueröffnung noch nicht so bekannt ist, bleiben Mikail und ich für zwei Nächte die einzigen Gäste, wobei ich mir das Zimmer mit Pings Tante teile. So eine herzige Frau. Sie spricht auch immer mit mir, doch ich verstehe leider kein einziges ihrer thailändischen Worte, so lese ich die Emotionen und Gesten so gut es geht aus ihrem Gesicht beziehungsweise aus ihren Augen.

Mikail und ich machen uns am frühen Mittag zu Fuß auf den Weg in die Altstadt, die quasi um die Ecke liegt und ich bin ganz angetan, erinnert sie doch mit ihren bunten alten Häusern an Kuba, mit den chinesisch wirkenden Lampions an Melaka. Wie auch immer, einfach schön. Wir bummeln ein wenig durch die Straßen und Lädchen und ich freue mich, als wir einen Shop mit Verkleidungsartikeln finden. Wunderbar, denn ich brauche noch etwas für die Halloween-Party zu der wir am Abend in ein anderes Hostel gehen wollen. Mikail wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine Verkleidung, obwohl es richtig tolle „made in China“- und „made in Taiwan“-Billigprodukte gibt 😆 Ich wähle einen Haarreif mit blinkenden Blutaugen, dazu Knochen-Tattoos, die man auf den Fingern anbringen kann. Perfekt, nicht zu viel, aber für den Spaßfaktor genug. Danach gibt es noch ein leckeres Eis, für das uns Waffeln in unterschiedlichen Geschmacks- und Farbrichtungen angeboten werden. Die Waffel selbst macht dann auch für mehrere Stunden satt 😄

Hätte ich gewusst, wie viel Aufwand es ist, die Tatoos anzubringen, hätte ich das gelassen. Doch interessanterweise verfügt Mikail über die nötige Geduld und ich bin fasziniert, wie hingebungsvoll und akkurat er das macht – Knochen für Knochen. Seltsam, welch zwei Seiten in ihm walten. Ich bin auch ganz gerührt, als er erzählt, dass er als Jugendlicher nach der Schule, seiner von der Arbeit erschöpften Mutter immer einen Kuss auf die Stirn gegeben und ihr gesagt hat, sie solle sich ausruhen, er kocht etwas und sie können dann zusammen essen. Und fast noch mehr rührt mich sein Ziel, eines Tages ein Kinderheim aufbauen zu wollen, in dem es nicht viele Kinder gibt, sie aber gut behandelt werden und die nötige Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen. Wir sprechen also weiter viel und ich bekomme immer mehr die Idee davon, wie viel unverarbeiteter Schmerz, Verlust, Wut und Trauer noch in ihm vorhanden sind; dadurch auch eine Form von Verständnis für sein Verhalten, auch wenn ich es nicht für gut heiße. Und er räumt ein, dass er, außer seiner Freundin, noch nie jemandem seine ganze Geschichte erzählt hat, weil er kein Mitleid möchte, ich vermute, auch seine verletzliche Seite nicht zeigen.

Wir ziehen also durch die Straßen, gelangen zum Hostel mit der Party und kommen zeitgleich mit Juan, einem Argentinier an, setzen uns auch gemeinsam an einen Tisch, unterhalten uns. Ich lerne auch Kevin und Chloë von La Réunion, neben mir sitzend, kennen. Während Kevin morgen wieder heim fliegt, geht es für Chloë nach Neuseeland zum Wooving. Wooving ist mehr oder weniger eine Art Farmarbeit, die weltweit angeboten wird und bei der man für die Mithilfe im Gegenzug Kosten und Logis frei erhält. Da Kevin sie im Februar dort besucht und ich zur gleichen Zeit da bin, tauschen wir unsere Kontaktdaten. Im Übrigen hat mir zwischenzeitlich auch Antoine geschrieben, der Franzose, den ich auf Langkawi kennen gelernt hatte und der ebenfalls im gleichen Zeitraum dort sein wird. Jetzt habe ich also schon so viele Menschen kennen gelernt und bin noch lange genug unterwegs, um vielleicht tatsächlich nochmal jemanden wieder zu treffen 😊 Wir werden sehen.

Wie wir so da sitzen, das Gegrillte essen und uns unterhalten, wird der Tisch immer voller. John aus Seattle und Nicolas aus Kolumbien kommen dazu und wir haben schon ordentlich Spaß. Dieser wird noch gesteigert, als die Veranstalter nun anfangen, Spiele anzubieten. Wie soll es anders sein, ich bin gleich in der ersten Runde mit dabei und schaffe es bei der „Reise nach Jerusalem“ immerhin auf den zweiten Platz. Leider nicht auf den letzten freien, Juan war einen Ticken schneller. Dennoch bekommen wir beide einen Preis: jeweils eine Übernachtung in Phuket und ich on top ein kleines Tänzchen mit dem Südamerikaner 😉 Da er schon bald wieder abreist, schenkt er mir auch seinen Gutschein. Da ich auch bereits komplett geplant und gebucht habe, schenke ich Leonardo, einem Halb-Argentinier, Halb-Portugiesen, der neben deutsch noch fünf weitere Sprachen spricht, die beiden Übernachtungen. You get what you give und so gebe ich es auch von Herzen gerne. Inzwischen sind die Jungs in die Trinkspiele vertieft, während mir Nicolas erzählt, dass er unter anderem als Artist für das „Harmony World Puppet Festival“, das in Form von Straßentheater in Phuket stattfindet, hier ist, zu dem er uns alle einlädt. Zwischenzeitlich hat sich die Gruppe noch um drei weitere Südamerikaner erweitert: Daniel, Benjamin und Sebastian (bitte alles schön auf spanisch aussprechen 😉) Ob das wohl ein Zeichen ist, doch noch nach Südamerika zu reisen? Ich meine, ich habe in meinem Leben bislang vielleicht zwei kennen gelernt, jetzt gleich fünf an einem Abend, die sich im Übrigen untereinander nicht kannten. So viel Spaß hätte ich nicht erwartet, auch nicht, dass wir nach der Party zusammen weiter in einen Club ziehen. Da die eher rocklastige Musik der Graus für die Latinos ist (für mich in dem Fall auch), bleiben wir draußen sitzen. Zu inzwischen fortgeschrittener Stunde machen wir uns in unterschiedliche Richtungen auf den Rückweg und verabreden uns für den nächsten Tag. Schon interessant, wo ich da immer „hinein gerate“. Ach so, falls jemand denkt, oooouh Tanja, heiße Latinos, dem muss ich leider die Illusion rauben. Sind schon nicht schlecht, könnten allerdings allesamt meine Söhne sein, außerdem auch als Kroaten, Spanier oder Italiener durchgehen 🤣

Und tatsächlich sind wir am nächsten Tag zu siebt und fahren im Roller-Konvoi über Phuket zum südlichsten Zipfel an einen der unzählig vielen, schönen Sandstrände. Wir nehmen uns Liegen, quatschen und die Jungs haben vor allem Riesenspaß in den hohen Wellen. Wieder darf ich die Haltung Jüngerer kennen lernen, dazu die unterschiedlichsten Charaktere und Wege, die sie beschreiten. Reisende sind und bleiben interessant. Jeder auf seinem Weg, zwar mit unterschiedlichen Beweggründen und Zielen und doch irgendwie auf der Suche nach dem Gleichen: Antworten auf die Fragen nach Sinn und Erfüllung im Leben. Da sitze ich beispielsweise mit einem 28jährigen Amerikaner, der in einer Kinderklinik arbeitet, glücklich ist, trotzdem schon an eine baldige Rente denkt (!) oder einem Südamerikaner, der als Sous-Chef in einem 3 Sterne Michelin-Restaurant in Paris gearbeitet und gekündigt hat. Da stelle ich mir doch schon einige Fragen über die Entwicklungen in unserer Gesellschaft und wie es insgesamt weiter gehen soll. Ich kenne viele Menschen, doch nicht eine Handvoll, die wirklich erfüllt sind durch das, was sie alltäglich machen.

Nach einem ausgiebigen Strandtag teilt sich die Gruppe und ich schließe mich derjenigen an, die noch zum Sonnenuntergang zum „Big Buddha“ auf den höchsten Punkt der Halbinsel fährt. Alles richtig gemacht, denn es ist gigantisch. Der überdimensional große Buddha (45 Meter hoch!), der Ausblick auf das Meer mit den vielen Inseln, dazu ein Sonnenuntergang deluxe. Einzig die Rückfahrt durch die Rush Hour ist ein halber Horror und ich bin einfach nur dankbar als wir ankommen. Innerhalb von drei Tagen ca. 120 Kilometer auf dem Roller, das reicht auch meinem Allerwertesten 😆 Eins ist klar, morgen mache ich: NIX 😉

Nix im Sinne von Aktivität bekomme ich hin, dafür passiert mehr als ich mir hätte wünschen können… weitere Gespräche mit Mikail, in denen ich mich heute traue zu sagen, dass man Probleme nicht mit Gewalt lösen kann, wir über die Auswirkungen von Traumata sprechen und die Möglichkeiten, sie zu heilen. Während Mikail die Tränen laufen, steigen sie auch in mir auf, weil ich spüre, wie viel Wille zur Veränderung und zum inneren Frieden da sind. Auch wenn es noch ein paar, vielleicht sogar schmerzhafte,  Schritte auf seinem Weg bedeutet, weiß ich, er wird das schaffen. Diese seine Weltreise ist der vielleicht erste große Schritt und auch wenn es sich seltsam anhört: ich bin stolz auf ihn.