Viereinhalb Stunden fliege ich von Vancouver nach Toronto. Viereinhalb Stunden in einem einzigen Land und es sind noch nicht einmal die am voneinander entferntesten Orte. Es schüttet in Strömen und da der Weg zu Jennifers WG kompliziert und mit einem ganzen Stück Fußweg verbunden ist, was ich vermutlich auch niemals finden würde, bleibt mir nichts anderes, als ein Uber zu nehmen. Glücklicherweise habe ich einen dieser Fahrer, die Dir schon mal alles über die Stadt und Gegebenheiten im Land erzählt, dazu sehr interessiert und nett ist. Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte und es ist außer mir niemand da. Irgendwie abgefahren. Gerade setze ich meinen Rucksack ab und sehe in was für ein toll eingerichteten Altbau-Wohnung ich „gestrandet“ bin, als Jared nach Hause kommt und ich mich als „die Neue“ vorstelle. Jen war zwar vor mir losgeflogen, ist aber in der Schule, sie promoviert gerade mit entsprechendem Programm und Anwesenheitspflichten. Jared ist der Jüngste im Haus, macht etwas Ähnliches und ist homosexuell. Kevin, der mittlere und dritte im Bunde ist Opernsänger. Was für eine lustige Kombi 😁 Ich bin ja Gott sei Dank nicht schüchtern und so unterhalte ich mich länger mit Jared. Ich muss ja schon ein bisschen wissen, mit wem ich mir das Zuhause für die nächsten zehn Tage teile 😆 zumal Jen in vier Tagen nach Malta fliegt und ich dann mit den Jungs alleine hier bleibe.
Ich merke, dass ich aus der Erschöpfung kaum noch herauskomme und dass sich nun zehn Monate, diverse Zeitverschiebungen, Jetlags, das viele Feiern, die unendlich vielen Eindrücke und Begegnungen und das Reisen selbst deutlich bemerkbar machen. Wie gut, dass ich zum Abschluss einen Monat „Urlaub“ habe 😆 Schlafen, faulenzen, baden, sonnen, nichts tun, reflektieren und in Erinnerungen schwelgen. Doch bis dahin ist noch ein bisschen. Lange Rede, kurzer Sinn: ich lege mich hin, schlafe ein. Irgendwann kommt Jen und ich brauche eine ganze Weile, um zu mir zu kommen. Sie macht uns etwas zu essen, führt mich in die Küche ein und wir quatschen wieder bis tief in die Nacht. Zumindest können wir ausschlafen.
Aus dem Bett raus, gibt es ein köstliches Frühstück und wir gehen direkt einkaufen. Ich brauche ein paar Lebensmittel für mich, vor allem aber brauchen wir so manches für Samstag, denn da ist eine Einweihungsfeier in der WG geplant und wir besorgen schon mal alles, was wir dazu beitragen. Ja, wir, auch in steuere zwei verschiedene Fingerfoods bei. Wir gehen zu Fuß los, denn hier hat von den Dreien keiner ein Auto. Außerdem möchte Jen mir die U-Bahn-Haltestelle zeigen, wenn ich dann nächste Woche alleine losziehe. Die Wohngegend ist wunderschön und ich finde ein Haus schöner als das andere. Müsste ich mich entscheiden, ich wüsste gar nicht für welches. Rote Backsteinhäuser, die urig aussehen und immer ein gepflegtes Grün davor haben, manchmal auch farblich abgestimmt bepflanzt, meist in lila oder weiß. Jen muss mir viele Brücken bauen und gibt mir Hinweise, wie ich mir den Weg merken kann, denn dadurch, dass die Häuser ähnlich aussehen und es unglaublich viele verzweigte Straßen gibt, ist das wahrlich nicht einfach. Und ich frage mich, ob sie ernsthaft glaubte, ich hätte den Weg vom Flughafen per Bus, Bahn und meinen Füßen selbständig finden können 🤣
Nach 15 Minuten kommen wir an eine belebte Straße mit kleinen Geschäften, Supermärkten, Bäckereien und Cafés, gefällt mir. In dem Moment denke ich, das hier reicht mir, ich muss gar nicht nach Toronto rein. War vielleicht wirklich ein bisschen viel mit Großstädten die letzten Wochen. We’ll see. Auf dem Rückweg sind wir ganz schön bepackt und ich merke, wie komfortabel ich es mit Auto Zuhause habe.

Da Jen immer nebenher auch zu arbeiten und zu schreiben hat und heute traumhaft schönes Wetter ist, mache ich mich auf, in den nahe gelegenen High Park. Der Uber-Fahrer sagte mir, das sei der einzige großflächige Park der Stadt. Da habe ich ja direkt Glück, dass ich in der Nähe „wohne“. Auch dieser Weg ist nicht gerade so zu finden, doch die Kanadier sind unglaublich freundliche und sehr, sehr hilfsbereite Menschen und so finde ich eine nette Frau, die mich ein Stück begleitet und es mir dadurch leicht macht, in den Park zu gelangen. Das erste Stück führt mich durch einen Wald, der erneut nicht sonderlich fremdartig auf mich wirkt. Schließlich gelange ich an einen Weiher und bin ganz entzückt von all den Vögeln, Schwänen, Enten, Gänsen und Schmetterlingen, den Pflanzen und Blumen. Alles was ich bereits kenne und wahrscheinlich genau deswegen. Es fühlt sich gerade ganz heimisch an und ich bekomme ein vages Gefühl dafür, wie lange ich nun schon unterwegs bin. Denn richtig begreifen kann ich es irgendwie immer noch nicht. Und wie da etwas vor mir über den Weg huscht, werden meine Gedanken unterbrochen, denn was ist das? Das habe ich ja noch nie gesehen. Ich kriege mich vor lauter „wie süß, wie süß“ nicht mehr ein, die Leute drehen sich zu mir um und ich nehme das zum Anlass, einen von ihnen zu fragen, um was für ein Tier es sich hier handelt, das einem Eichhörnchen ähnlich sieht, jedoch die Größe einer Ratte hat. Ein chipmunk. Das hört sich auch noch so herzig an, aber ich habe immer noch keine Ahnung, muss ich später googeln 😅

Als ich mich auf eine Bank setze, auf das Wasser schaue und die Sonne genieße, gesellt sich eine Frau mit polnischen Wurzeln zu mir, wir unterhalten uns eine ganze Weile. Als ich mir ein Eis kaufe, komme ich mit dem Eisverkäufer, der griechische Wurzeln hat, ins Gespräch. Und es ist sehr interessant, Kanada aus der Perspektive von Migranten beschrieben zu bekommen, wenngleich sie hier schon viele Jahrzehnte leben. Und wahrscheinlich bin ich deswegen so interessiert, weil es die Generation meiner Eltern ist und sie ja auch ins Ausland gegangen sind. Ich scheine also auf einer Art Entdeckungstour diesbezüglich zu sein. Bin ich doch sehr an den Emotionen dieser Menschen interessiert. Vielleicht sollte ich einfach auch mal meine Mutter fragen. Ein Plan für Kroatien, wo wir ein paar Tage gemeinsam verbringen werden ☺
Ich umrunde den gesamten Weiher und das fühlt sich richtig gut an. Mindestens genau so wohltuend ist die anschließende Dusche, während Jen auch heute Abend etwas leckeres und gesundes für uns zubereitet. Morgen bin ich dran und ich habe mich für Fisch entschieden. Ach so, und ich recherchiere natürlich gleich, um zu wissen, dass ich diverse Streifenhörnchen im Park gesehen habe. Übrigens auch Eichhörnchen, aber die waren heute jetzt nicht ganz so interessant 😁

Ich bin platt wie ein Schnitzel und könnte direkt ins Bett, Jen möchte gerne noch auf ein Getränk raus. O… kay. Lust habe ich nicht so richtig, aber so viel gemeinsame Zeit bleibt uns ja auch nicht mehr. Wie soll es anders sein, wir lernen wieder Leute kennen, es wird später als gedacht und täglich grüßt das Murmeltier. Und das gleiche gilt für den kommenden Abend, wobei es da in die Großstadt geht – whoop whoop 🙌 Hier ist allerdings mal wieder ein Spiel der NBA Finals, die wir mitschauen und mir dieses Mal genau gar nichts anderes übrig bleibt als „Let’s go Rap-tors“ mit zu gröhlen, denn jetzt bin ich in Toronto und hier ist heute Abend definitiv kein SF-Fan unterwegs 😅 Als die Kanadier gewinnen, ist die Stadt im Ausnahmezustand und das, obwohl immer noch nicht der endgültige Sieger feststeht. Wie bei uns, wenn es bei der WM eine Runde weitergeht. Obwohl ich würde schon fast vom Einzug ins Finale sprechen wollen 😆

Heute steigt also die Einweihungsfeier, wir schlafen dennoch aus und selbst dann sind alle noch ganz entspannt. Ich hätte wahrscheinlich schon drei Tage vorher mit den Vorbereitungen angefangen, ich lerne nicht aus 🤣 Ganz gemächlich wird ein wenig aufgeräumt, zurecht geschoben und vorbereitet, bevor wir schließlich zu dritt in der Küche stehen und anfangen, das Fingerfood zuzubereiten. Auch hier lerne ich viel, denn Jared ist Veganer und insgesamt ist in diesem Haushalt Vieles auf gesundes Essen ausgerichtet, gefällt mir. Ich mache Tomaten-Mozzarella-Spieße und die Wraps, von denen ich auf Kangaroo Island so begeistert war, dass ich das Rezept direkt aufgeschrieben hatte, wobei dort der geriebene Käse gefehlt hat – ist also ein Nachtrag 😉 Jen hatte Hähnchen in einer orientalischen Sauce eingelegt, das jetzt im Backofen schmort, außerdem macht sie Falafel selbst und eine pervers gut schmeckende Creme, die mit Obst als Nachtisch vorgesehen ist. Jared übertrifft alles mit selbstgemachten Teigtaschen mit einer Pilzfüllung und als Getränk Gin Tonic und ein Limonaden-Limetten-Wasser. Er ist nicht undankbar, als ich anfange die 15 Citrusfrüchte in dünne Scheiben zu schneiden, denn am Ende wird die Zeit doch knapp. Wie gut, dass niemand überpünktlich erscheint und am Ende alles auf den Punkt fertig ist. Respekt. Die Gäste trudeln ein und ich beginne den Abend im Austausch mit Kevin, der sich ähnlich unwohl fühlt wie ich, kennt er doch selbst niemanden, hat auch keine Einladungen ausgesprochen, da er morgen früh raus muss zum Arbeiten und auch heute gearbeitet hat. Später unterhalte ich mich mit anderen, die mich aus Jens Erzählungen schon kennen 🙃 Ein sehr netter Abend, der glücklicherweise nicht ausartet, denn meine Wachphasen scheinen gerade etwas begrenzt 😆
Und so ist nun der Sonntag gekommen, an dem Jen fliegt und ich alleine „zurück bleibe“, was so ursprünglich nicht geplant war, doch ich bin ja jung und flexibel 😁 Das für mich Positive: mir bleiben sechs Tage mit nur zwei Programmpunkten: die Niagara Fälle und Toronto Stadt. Und ganz bestimmt mache ich vor Mittwoch nichts. Gut, liegt auch mit am Wetter, denn es ist noch genau ein sonniger und ein bewölkter Tag vorher gesagt, ansonsten Dauerregen. Ich nehme den sonnigen für die Wasserfälle, worauf ich mich auch wirklich sehr freue. Ich buche mir also ein Busticket und mache die zwei Tage dazwischen nichts bis nicht sehr viel. Wobei schlafen und kochen in meinem Fall schon auch erwähnenswert sind 😉 Dann geht es los. Ich fahre zunächst in die Stadt rein, und nehme dann den Bus, der uns in zwei Stunden nach Niagara Falls fährt, was die gleichnamige Stadt am Naturspektakel selbst ist. Zugegeben, ein seltsamer Ort. Er wirkt wie ausgestorben, ein bisschen wie eine alte Westernstadt. Und ich brauche erneut ortskundige Auskunft, um den Weg zu den Wasserfällen zu finden. Ich dachte die Niagara Fälle lägen mitten im Nirgendwo, umgeben von Natur, sonst nichts. Stattdessen gibt es noch einen weiteren Stadtteil, der Las Vegas in klein abbildet. Wie gut, dass ich das am Tag zuvor schon gelesen habe, sonst wäre ich jetzt maßlos enttäuscht. Doch der mintgrüne Niagara River, an dem ich lange entlang gehe, macht schon einiges wieder wett und als ich die Wasserfälle erblicke, ist alles entschädigt. Zunächst gelange ich an die „American & Bridal Veil Falls“, dann an die kanadischen „Horseshoe Falls“, die ich aus der Ferne schon sehen kann. Eine Kanadierin mit russischen Wurzeln sieht mich auf der Karte schauen und erklärt mir schließlich alles, was ich wissen muss. Wie schön, dass ich immer wieder auf „ehrenamtliche guides“ treffe ☺ Mein erstes Highlight erlebe ich, als ich unmittelbar an den kanadischen Wasserfällen stehe. So etwas habe ich definitiv noch nie gesehen und für mich ist das zweifelsohne ein Naturwunder. Gigantisch, phänomenal, unbeschreiblich. Wassermassen, die im Halbkreis, wie ein Hufeisen eben, hinabstürzen, als wäre ein ganzer Ozean am Fließen. Ich stehe einfach nur da und staune. Filme, fotografiere und staune wieder.
Ich habe noch ausreichend Zeit und will mich auf den Weg in die USA machen – zu Fuß 😆 Und das kann ich nur, weil mein Visum noch gültig ist. Ich zahle an der „Rainbow Bridge“ einen kleinen Wegzoll für die Überquerung und bin keine zehn Minuten später im Bundesstaat New York! Die Einreise wie am Flughafen 😬 Ich zahle 6 US Dollar und hoffe in dem Moment, dass mein kanadisches Visum auch eine mehrfache Einreise erlaubt, denn andernfalls habe ich ein kleines Problem 😅 Es ist nicht weit, bis ich an den „American Falls“ stehe und diese aus nächster Nähe bestaunen und nach Kanada hinüber blicken kann. Ich finde das lustig und freue mich über diesen erlebnisreichen Tag an diesen wahrlich wundervollen Wasserfällen. Meine Füße sind schon ziemlich müde, bin ich doch heute schon viele Kilometer gegangen. Hilft alles nix, ich muss auch wieder die ganzen Wege zurück. Wie gut, dass ich morgen erneut: NICHTS tun werde 😁
Ich weiß gar nicht so recht, was ich mir in Toronto anschauen soll, die Stadt ist ja vergleichbar groß wie Berlin und das sind eben nicht diese Großstädte in denen man Vieles zu Fuß erkunden kann. Wie gut, dass ich mir die WG mit so liebenswerten Mitbewohnern teile, denn Kevin gibt mir eine Karte und zeichnet mir einen Weg ein und markiert, was ich unbedingt gesehen haben sollte, sogar ein gutes Café. Damit nicht genug, er gibt mir auch seine Bahnfahrkarte ☺ Jared macht uns währenddessen „geschwind“ einen Tassenkuchen und wir zwei machen später  eine Gesichtsmaske zusammen 😁 Schon arg süß! 😊 Und dann buche ich das letzte Mal auf dieser meiner Reise eine Unterkunft – ein Hostel für die besuchsfreien vier Tage in Island, meinem nächsten Ziel. Für Schweden habe ich schon alles gebucht. Ich kann kaum glauben, dass es jetzt wieder zurück nach Europa geht…

So fahre ich also mit der U-Bahn zu entsprechender Station und gehe den von Kevin in der Stadtkarte eingezeichneten Weg in großen Teilen ab. Als ich ein Mal nachfragen muss, bekomme ich von einer Frau gleich noch eine andere Empfehlung und finde die kleine schnuckelige Farm in der Großstadt auch, von der sie sprach. Nun bin ich ein wenig vom Weg abgekommen und würde sagen, dass ich ihm nicht zu 100% folgen kann, doch immerhin bin ich in der Gegend, in der ich sein soll und sehe am Ende auch die Hotspots wie das Alte Rathaus, die Börse, die Universität, den CN Tower und den Hafen. Natürlich noch vieles andere, worüber ich mir im Anschluss die Infos geben lasse. Es gibt definitiv schöne Ecken und doch ist das eine der Großstädte, die mich schlicht überfordern – zu groß, zu unpersönlich. Den Weg von der U-Bahn-Haltestelle am High Park bis zur Wohnung schaffe ich nach 14 Kilometern kaum noch und muss… genau, mich erst einmal hinlegen 🤣

Am Abend hat Kevin mich eingeladen, mit ihm, seiner Mutter und einer Freundin gemeinsam zu Abend zu essen, sie kochen. Das finde ich total lieb und für meinen Abschlussabend richtig schön. Ich esse nicht nur lecker, ich erfahre auch, wie man mit Bären im eigenen Garten umgeht und lerne außerdem das Spiel „Sushi Go!“ kennen 😆 Muss ich mir daheim direkt besorgen, so witzig. Ja, und so geht nicht nur meine Zeit in Toronto, sondern auch in Kanada zu Ende. Und ich bin völlig okay damit, dass ich hier nicht, wie ursprünglich geplant, zwei Monate geblieben bin. Ich hätte das nach all dem Erlebten vielleicht gar nicht mehr richtig genießen können. Außerdem ist ja sowieso immer alles gut, so wie es ist und sein soll ☺

P.S.: Die Toronto Raptors haben tatsächlich gewonnen und es ist das erste Mal, dass Kanada als Sieger bei der Basketball Profilliga NBA hervorgeht! 🍁