Wir fahren in Beijing stadtauswärts – es regnet in Strömen. Die Stadt auf eine andere Weise wieder grau. Doch dieses Mal sehe ich ein paar Business-Districts, die zumindest etwas hergeben, wenn auch keine Farbe. Ich schlafe völlig übermüdet im Auto ein. Jede Nacht zwischen zwei und vier Uhr bin ich wach. Das kenne ich nicht, nehme es aber so an. Als ich im Auto wieder wach werde, bin ich gefühlt in einer anderen Welt: klarer Himmel und Grün, soweit das Auge reicht. Drei Stunden später kommen wir an, können die Chinesische Mauer schon sehen. Wir fahren mit einer Gondel in die Höhe und – stehen auf ihr. Wow. Es ist noch viel imposanter, als man es von der Google-Bildersuche kennt. Zugegeben, es ist der touristische Teil und wir sind nicht alleine. Da es morgens jedoch so geregnet hat, sind es zumindest keine Massen wie sonst, wird uns gesagt. Ich gehe Stück um Stück vorwärts, immer wieder Treppen auf und ab. Die Landschaft ist mit dem bloßen Auge kaum zu erfassen, von Fotos ganz zu schweigen. Ein Riesenschmetterling setzt sich auf mir ab (bevor ein kleiner Junge anfängt, ihn zu jagen). Ich bin in diesem Moment so dankbar, fühle mich auf einmal so vollständig, so ganz und denke, wenn es das Einzige Ziel auf meiner Reise gewesen wäre, so hätte sie sich schon gelohnt. Und in diesem Moment weiß ich noch nicht einmal, was in den kommenden Tagen noch alles auf mich wartet. Wir kommen als Gruppe kaum gemeinsam vorwärts, der eine nur am Fotografieren (nein, ausnahmsweise nicht ich), die anderen am Staunen, Aufnehmen, Genießen. Ich bin die einzige, die keine Rückfahrkarte für die Gondel genommen hat, weil ich gerne hinunter laufen möchte. Der Nomade lässt mich das nicht alleine tun und kommt mit. Ich erkläre ihm, dass ich manchmal die Stille brauche, um die Dinge auf mich wirken zu lassen und einen Moment der Ruhe genießen zu können. Er versteht das. Wir bleiben auf der Hälfte schweigend an einem Aussichtspunkt sitzen und ich bin einfach nur glücklich. Glücklich, endlich hier zu sein und das erleben zu können.

Wir fahren zwei Stunden, bis zu unserer Unterkunft. In ein kleines Dorf, am Fuße der Mauer. Als wir vor einem herunter gekommenen Etwas anhalten, denke ich, dass das nicht wahr sein kann. Habe Recht, wir haben uns verfahren. Dort, wo wir jedoch endgültig halten, sieht es nicht viel anders aus. Eine Blechtreppe führt in unser Zimmer. Gut, es stehen immerhin Betten darin. Und wir haben eine eigene Toilette. Als Druja allerdings in die Toilette zeigt und sagt, wir müssten die Dusche etwas laufen lassen, bis warmes Wasser kommt, bin ich irritiert. Wo ist die Dusche? Aaah, ich entdecke einen Duschkopf in der Toilette. Ich kann es nicht glauben, finde es aber irgendwie schon wieder gut und schüttele grinsend den Kopf. Ich dusche und gehe dann in den „Gemeinschaftsraum“ essen. Es sind runde Tische, auf denen drehbare Tischplatten sind. Wie überall dort, wo man isst. Es werden verschiedene Teller mit Essen gebracht und – natürlich – eine Schüssel Reis. Das Essen ist so etwas von ausgesprochen gut und hat mit dem, was wir beim Asiaten bestellen, wenig zu tun. Ich verstehe nun, warum hier alle so schmal sind. Sie essen, außer Reis, keinerlei Kohlenhydrate. Gemüse, Gemüse, Gemüse, Fleisch und Fisch, Reis, Reis, Reis – letzteres morgens, mittags, abends. Ich wusste nicht, dass es so viele Gemüsesorten gibt, die man auf so unterschiedliche Weise kombinieren und zubereiten kann. So delicious! Es ist eine schöne Art des gemeinsamen Essens, jeder nimmt von allem, das Drehen der Tischplatte wird zum Spaß. Einzig darüber, dass jeder mit seinen Stäbchen, die er schon im Mund hatte, im Essen rumpickt, darf ich nicht nachdenken. Aber gut, beim Fondue ist es auch nicht anders. A propos Stäbchen. Anfangs hatte ich schon etwas Sorge, ohne Besteck verhungern zu müssen. Aber auch das geht zwischenzeitlich, zumindest weitestgehend 😀

Anschließend spielen wir Mah-Jongg, ein chinesisches Spiel, ähnlich dem uns (also zumindest mir 😁) bekannten Rummy, müssen vorher jedoch die chinesischen Zahlen lernen. Druja schreibt jedem geduldig einen entsprechenden Zettel. Wir trinken Bierchen, haben Freude, lachen viel – über skurrile Gegebenheiten, lustige Chinesen und verstopfte Toiletten. Wir sind nun definitiv an dem Punkt angekommen, uns zu nehmen wie wir sind, nämlich jeder auf seine Weise besonders & wertvoll und so gesehen sind wir eine heterogene und doch stimmige Gruppe, die die unterschiedlichsten Facetten abdeckt.
Als wir Richtung Bett gehen, bewundern wir noch einen Sternenhimmel, wie er in Beijing vermutlich nie zu sehen sein wird. Und entdecken vor unserer Nase die größte Spinne, die wir  bislang gesehen haben. Handflächengroß, wobei die Körpergröße einer Pflaume gleicht. Ich weiß gar nicht, was zwischenzeitlich mit mir geschehen ist, aber es macht mir nichts aus. Nicht falsch verstehen, ich habe sie weder gestreichelt noch mit aufs Zimmer genommen, aber ich bin auch nicht hysterisch davon gerannt und habe mich geweigert, an diesem Ort zu bleiben 🤣 Im Zimmer verschließen wir natürlich dennoch erst mal alle nach draußen führende Öffnungen und lassen Druja unser Zimmer auf Spinnen checken. Aber auch die Einfachheit der Unterkünfte, was sehr galant ausgedrückt ist, macht mir wenig aus. Mir, die ich ordnungsliebend und äußerst reinlich bin und die ich gerne auch ins 4* Hotel gehe… Mein Gepäck ist demnach auch perfekt strukturiert und ordentlich gepackt, ich weiß genau, wo ich was finde und vermisse bislang nichts. Schwer bleibt es trotzdem. Und ich bin mir sicher, es wird sowohl leichter als auch deutlich unordentlicher 😄

Ich wache morgens rechtzeitig auf, um etwas vom Sonnenaufgang zu sehen. Ein leichter Dunst liegt noch über den Bergen und somit über der Mauer. Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte, schließe Freundschaft mit einem streunenden weißen Hund, der quietschend an mir hochspringt und spielen möchte, nehme ein paar tiefe Atemzüge, um diese morgendliche Energie in mich aufzunehmen.
Das Frühstück ist mit das Beste ever (unter anderem knusprig gebratenes Omelett), wenngleich ich Chips, und ich meine keine Pommes, sowie Reis ungewöhnlich finde, aber gut, warum auch nicht 😋
Wir starten zu Fuß und laufen durch den Wald erneut auf die Mauer, heute ein ursprünglicherer Teil, der weder restauriert, noch groß bewandert ist. In fünf Stunden treffen wir auf insgesamt fünf Menschen. Im Wald ist es durch die hohe Luftfeuchtigkeit sehr rutschig und wir sitzen fast alle mal auf dem Hintern. Oben angekommen, haben wir einen Blick, der den vom Vortag noch toppt. Ich wusste nicht, dass man so weit schauen kann. Wälder und Berge bis zum Horizont und so weit das Auge reicht. Und dann diese Mauer. Sie erinnert heute an uralte Schlossruinen. Wir kommen an Stellen, an denen die Stufen so hoch sind, dass ich sie mit meinen nicht ganz so lang gewachsenen Beinen kaum ersteigen kann und ich frage mich, wie der Chinese das macht 😝 Heute verstehe ich den Ausdruck „die glatten Wände hochgehen“. Die Stufen sind nämlich nicht nur so hoch, dass ich für jede Stufe meine gesamte Körperkraft benötige, sie sind auch so schmal, dass kaum mein Wanderschuh Platz darauf findet. Und ich darf nicht zurück blicken, denn sonst kommt Höhenangst, die ich sonst gar nicht habe. Müssen wir hohe Stufen auch mal abwärts nehmen, so meist rückwärts, alles andere scheint mir lebensgefährlich. Ich frage mich immer und immer wieder, wie es möglich war, diese Mauer zu errichten – die unzähligen Steine in die Höhe zu tragen und das auf einer Länge von 21.196 Kilometern (!!!). Es wird geschätzt, dass eine Million Menschen am Werk waren, von denen Viele dabei auch ihr Leben lassen mussten. Da ist es ja vielleicht kein Zufall, dass wir auch an die „Ladder of Sky“ kommen (Leiter des Himmels). Ich nehme nur ein paar der Stufen, schließlich möchte ich auf der Erde bleiben 😊 Außerdem geben meine Beine nicht mehr für eine einzige Stufe die Kraft her. Ich bin mit Sicherheit die letzten fünf Jahre nicht so viele Treppen gestiegen wie an diesem heutigen Tag.
Wir fahren wieder zwei Stunden, bis zum nächsten Dorf, in dem wir bleiben. Und in dem wir im Freien eine Thai-Chi-Stunde bekommen. Verständigen können wir uns mit der so anmutigen Frau nicht, aber ihre Gesten und ihr freundliches Lächeln reichen aus. Auch hier haben wir Spaß, denn bei uns sieht das nicht ganz so anmutig aus, außerdem ist es auch etwas bizarr, wenn vier Europäer auf dem Dorfplatz sich mehr verrenken denn fließenden Bewegungen nachgehen 😆 An diesem Abend haben wir schnell fertig, so eine Chinesische Mauer ist ja irgendwie nicht ganz unanstrengend. Aber zumindest hilft es mir, die Nacht mal durchzuschlafen.

Ein weiterer Mauerabschnitt wartet am dritten Tour-Tag darauf, von uns erkundet zu werden. Es wird uns mehrfach gesagt, wir sollen ausreichend Wasser mitnehmen. Die anderen packen 4 Liter (!) ein. Beim besten Willen, so viel kann ich nicht tragen, denn ein Lunch, Sonnencreme & Co. sind auch noch mit im Gepäck. Der Anstieg ist heute nicht durch den Schatten spendenden Wald, sondern in der bereits um 9 Uhr gleißenden Hitze. Bis wir die Mauer erreichen, sind wir bereits klatschnass und brauchen den ersten halben Liter Wasser. Es ist wie auf einem Hochplateau und wir gehen einfach permanent unter der prallen Sonne. Ich lege mir ein Handtuch um, um meinen schmerzenden Sonnenbrand vom Vortag im Nacken abzudecken. Nicht nur deswegen eine gute Idee, sondern auch, um den triefenden Schweiß aufzufangen und abzuwischen. Ich habe in meinem Leben nur einmal so geschwitzt – im Outback Australiens.
Ich hätte niemals nie erwartet, dass es noch eine Steigerung der Landschaft und der Aussicht geben kann. Das heute ist gefühlt nicht nur eine Steigerung, sondern das Höchste des Höchsten überhaupt. Die Wälder, die auch etwas vom Schwarzwald haben, mit der Weite und den Bergen ist das Eine, aber die Chinesische Mauer, die sich dazwischen einfach überall weich in die Landschaft einbettet, egal in welche Himmelsrichtung man schaut, ist einfach unbeschreiblich. Alle paar hundert Meter steht ein Aussichtsturm, in denen man aufgrund der Steinwände ein wenig Abkühlung findet. Sie zeigen sich wie kleine Burgen und die Landschaft sieht aus wie in einem Sagenland aus einer anderen Zeit. Ich spreche heute kaum ein Wort, weil mich die Anblicke so derart faszinieren. Kein Foto, keine Beschreibung kann dies je so widergeben, wie es sich zeigt.
Nicht alle Teile sind begehbar, mitunter wegen des Militärs, das dort oben sogar ein Basecamp hat und genau beobachtet, was passiert und ob sorgsam mit dem hohen Gut und den ursprünglichsten Abschnitten umgegangen wird. Aber auch, weil Steine einiger Teile durch starke Regenfälle abgerutscht sind. So müssen wir erneut ins Tal ab- und zur Mauer wieder aufsteigen. Wir laufen durch waldiges Gestrüpp und eigentlich bräuchte es eine Machete, um hindurch zu kommen. So nutzen wir Beine und Arme, um unser Gesicht zu schützen – entsprechend sehen sie aus. Nicht mal als Kind waren meine Beine so derart verkratzt. Damit nicht genug, das Gestrüpp ist voll mit den buntesten und farbenfrohesten Raupen, wir irgendwann auch. Da habe ich wohl das Adventure-Package gebucht 🤠 Spaß beiseite, nach dem zweiten Anstieg und bei 37°C kommen wir an unsere Grenzen. Mir geht es an sich ganz okay, allerdings fange ich an, mein Herz zu bitten, nicht stehen zu bleiben. Es fühlt sich an, als stünde ich kurz vor einem Infarkt. Ich halte immer wieder an, atme lange aus, um meinen Puls zu drosseln. Verstehe nun auch das viele Trinken und die Pausen. Komme jedoch gut mit drei Litern aus, die ich komplett auch wieder herausschwitze. Bei unserer Jüngsten laufen Tränen, sie kann nicht mehr. Wir machen immer wieder Halt, ich habe zum Glück Traubenzucker dabei. Wir gehen sehr achtsam und fürsorglich miteinander um. Ein schönes Gefühl. Schließlich kürzen wir die Tour, lassen es nach sechs Stunden gut sein und machen einfach morgen an dieser Stelle weiter.
Trotz aller Mühe und Anstrengung, hat sich alles uneingeschränkt gelohnt – Bilder in meinem Kopf, die für immer darin bleiben, dazu die Erinnerung in meinem Herzen, das so gut durchgehalten hat ❤