In der Nacht regnet es, als würde jemand eimerweise Wasser vom Himmel schütten und ich frage mich, ob es uns irgendwann davon spült. Schließlich sind die Bauten nicht mit den unseren zu vergleichen. Zumindest kommt eine vermeintliche Abkühlung, wenigstens in der Nacht. Am Morgen ist schon wieder so eine hohe Luftfeuchtigkeit, dass es keiner Anstrengung bedarf, um erneut dankbar für schnelltrocknende Funktionskleidung zu sein. Heute treffe ich erstmals auf eine kleine ostdeutsche Gruppe auf der Mauer, also der chinesischen 🤣 Der heutige Tag ist anders. Wir sind nicht mehr ganz alleine unterwegs, zudem geben die vielen Riesengrillen ein Konzert, das eher an Death Metal denn an sanfte natürliche Klänge erinnert. Es fühlt sich an, als seien dies all die verlorenen Seelen, die ihr Leben während des Mauerbaus verloren haben und nach Erlösung schreien. Als ich den Gedanken ausspreche, findet ihn eine morbide, ein anderer feinsinnig. Wie auch immer, die Geräusche sind auf jeden Fall eindringlich. Ich hänge meinen Gedanken nach, kann sie aber gar nicht recht greifen. Die letzten zwei Nächte habe ich unruhig geschlafen und ich weiß, es ist der nächste Schritt, der mir zu schaffen macht. Zum Einen heißt es bald wieder Abschied nehmen und alleine in die Ferne weiterziehen. Zum Anderen habe ich geträumt, dass meine Liebsten, obwohl wir gemeinsam unterwegs waren, meinen Geburtstag vergessen haben. Und das scheint wahrscheinlich eine unterbewusste Angst zu sein, daheim vergessen zu werden 😟

Wie ich so auf der Mauer gehe, beschäftigt mich außerdem ein Gespräch, dass ich mit dem Nomaden geführt habe. Ich habe das Gefühl, dass wir auf einer Ebene sind und erzähle ihm offen, dass ich mit dieser Reise vermutlich auf der Suche bin. Ich weiß auch wonach, doch es ist noch nicht die Zeit, darüber zu schreiben. Auf jeden Fall scheint er mich zu verstehen und weiß, wovon ich spreche. Und ich erzähle, dass ich ursprünglich auch nach Tibet wollte. Er sagt, er kann mir gerne helfen, wenn ich das machen möchte – sowohl mit der nicht ganz einfachen Einreisegenehmigung als auch mit einer Tour, um sein Land, das Himalaya-Gebirge und die Rituale der Tibeter kennenzulernen. Er fährt unmittelbar nach unserer Tour zurück nach Tibet…

Abends bewundere ich den schönen Sternenhimmel und den Mond. Ich finde das immer wieder faszinierend und es löst ein heimeliges Gefühl aus, denn schließlich sehen wir das alle, wenn wir in den Himmel blicken, ganz gleich wo wir sind.

Schließlich halte ich es nicht mehr aus und lade mir illegalerweise die VPN-App runter, um Zugriff auf WhatsApp und alle Google-Anwendungen zu erhalten, telefoniere mit Zuhause, schreibe und erhalte Nachrichten, die mich berühren und freuen.

Am nächsten Morgen fahren wir weiter, an einen sehr touristischen Platz, der mich ganz nervös macht. Es ist zwar alles soweit schön erschlossen, aber so unfassbar laut. Aus den Lautsprechern dröhnt Musik, die an alte Kriegsfilme erinnert. Und wieder einmal wird der Kommunismus in diesem Land spürbar. Ich fühle mich unwohl, freue mich, dass wir gleich nochmal die Mauer bewandern, doch der Plan geht leider nicht auf. Durch die Sturzbäche an Regen auch in der vergangenen Nacht, ist der Zugang gesperrt, die Gefahren sind zu hoch. Wir schlendern an diesem lauten Platz über einen Markt, auf dem sie, wie auf all solchen Märkten in der Welt, Dir versuchen, alles Mögliche anzudrehen. Und ich habe schon viel Kitschiges gesehen, aber das hier übertrifft fast alles. Außerdem gut, dass mein Gepäck ohnehin schon so schwer ist und ich nichts kaufen kann (es gibt auch Schönes) 😁 Wir laufen nun auf einem Fake-Mauerstück, von dem die Touris meinen, das sei echt 🙄 Wir laufen an einem kleinen Tempel vorbei, ich schaue rein und erkenne die buddhistische Göttin Kuan Yin. Der davor sitzende Mann ist begeistert, zieht mich rein, lässt mich vor ihr niederknien und mich dreimal verbeugen, während er eine Klangschale bedient. Schließlich bedeutet er mir, mich auf einen Stuhl zu setzen und mich in ein Buch einzutragen – mit Namen und worum ich bitte bzw. wofür ich bete. Ich schreibe das auf, wonach ich suche… Natürlich soll ich auch etwas spenden. Wie gut, dass ich Kleingeld in der Hosentasche habe und meinen Geldbeutel nicht zücken muss, auch wenn dem Mann dieser kleine Betrag ganz und gar nicht gefällt. Dennoch bekomme ich ein rotes Band mit gelben Schriftzeichen – entsprechend der chinesischen Flagge – um das Handgelenk gelegt. Ich bedanke mich und verlasse den Tempel. Draußen erschrecke ich, da die vielen Zeichen auf dem Band aussehen wie Hakenkreuze. Ich rufe fast panisch nach Druja und frage ihn, was das für Zeichen sind. Er sagt, sie stehen für Glück. Wie jetzt? 😳 Scheinbar kommt das Symbol aus dem hinduistischen, ist im asiatischen sehr verbreitet und hat ausschließlich positive Bedeutung. Es fühlt sich seltsam an, das am Handgelenk zu tragen. Vielleicht weiß jemand mehr darüber oder kann recherchieren, wie dieses Zeichen zu den Nazis gelangt ist, welche Bedeutung es tatsächlich für sie hatte und kann es ins Kommentarfeld schreiben.

Ich bin dankbar, denn wir nehmen eine Abzweigung, die wieder zu ursprünglichen Teilen der Mauer führt und sind wieder für uns. Was für eine Erlösung. Auch dieses Stück sieht gänzlich anders aus – als Mauer selbst, von den Aussichtstürmen, aber auch von der Landschaft. Ich laufe ein Stück mit Druja, dem Nomaden, und frage ihn nach reiflicher Überlegung was wäre, wenn ich mit nach Tibet käme. Ob es dort Unterkünfte und auch kurzfristig noch Zugtickets gibt. Er sagt, das sei kein Thema, allerdings im Zug nur normale Sitzplätze (hard seats), was für 40 Stunden zwar heftig ist, ich aber bereit wäre, in Kauf zu nehmen. Das einzige Thema ist die Einreisegenehmigung. Er wird am Abend für mich nachfragen, wie lange die Erteilung und Ausstellung dieser dauert. Puh. Bin gespannt, was dabei rauskommt und wie es dann mit Flugumbuchungen etc. hinhaut. Irgendwie skurril, aber ich habe mir gedacht, man bereut nicht, was man tut, sondern das was man nicht tut. Und würde ich es nicht wenigstens versuchen, würde ich mich immer fragen, warum ich diese einmalige Chance nicht ergriffen habe.

Wir sind heute alle müde und etwas träge, denken, dass wir nur ein Stündchen auf der Mauer gehen, es werden erneut drei. Oben am Gipfel des heutigen Tages angekommen, entdecke ich verschiedene Steine und habe einen unbeschreiblichen Moment. Es ist wie eine Erkenntnis und ich bin einfach nur dankbar und in diesem Moment so unfassbar glücklich. Ich finde einen schönen Baum, der im Sonnenlicht regelrecht glitzert, nehme mein Band vom Arm und binde es – in Gedanken an meine Bitte – um den Baum. Ich freue mich, einen so besonderen Ort dafür gefunden zu haben. Druja muss mich beobachtet haben und sagt nur, dass er mir, wenn er nächstes Mal hier vorbei kommt, ein Foto schickt. Einen schöneren Abschluss auf dieser einzigartigen, faszinierenden und WUNDERvollen Chinesischen Mauer hätte es nicht geben können.

Am Abend gibt Druja mir Rückmeldung wegen Tibet. Die Ausstellung des Permit dauert mindestens zehn Tage, sodass Tibet jetzt nicht dran ist. Dann soll es nicht sein. Ich bin froh, gefragt zu haben, denn es hätte mich sonst vermutlich die ganze Reise lang beschäftigt.

Am vorletzten Tag meines Trips fahren wir wieder Richtung Beijing und machen noch Halt bei den Ming-Gräbern. Die Tempelbauten und unterirdischen Grabstätten sind zwar auf ihre Weise auch beeindruckend, doch ich finde die Vibes so negativ, dass ich die Energie kaum aushalte. Ich muss sehr desinteressiert wirken, was auf gewisse Weise auch stimmt. Dazu sind teils die Straßen überflutet und Zugänge erschwert. Ich bin froh, als wir hier wieder weg sind. Nicht, dass ich mich auf die Großstadt freue, aber zumindest weiß ich das Hotel, das ich zu Beginn der Reise nicht übermäßig fand, jetzt zu schätzen. Ein sauberes Bett mit guter Matratze, einem großen Waschbecken, einer separaten Dusche und alles sauber.

Wir gehen abends in eine Art Schnellrestaurant, das man alleine ohne entsprechende Sprachkenntnisse nicht besuchen kann. Alles in Mandarin und keiner spricht englisch. Das Essen incl. Getränk für insgesamt drei Euro sind fantastisch. Wir gehen zurück aufs Zimmer und ich verquatsche den ganzen Abend mit meiner Zimmergenossin. Ich bin gleichermaßen erstaunt als auch begeistert über das, was sich da auftut und worüber wir sprechen. Es geht um alte Verletzungen und daraus resultierenden Verhaltensmustern und einfach um insgesamt ganz viel Offenheit. Da fällt der Abschied nochmal schwerer. Das und was auch immer macht sich am nächsten Tag stark bemerkbar. Wir wollen zusammen noch Teile der Stadt erkunden, ich kann nicht mit. Ich bin so übernervös und hibbelig, habe Kopfschmerzen und weiß gar nicht recht, was mit mir geschieht. Und es wird den ganzen Tag nicht besser. Einzig eine Fußmassage lässt mich ein wenig zur Ruhe kommen, was jedoch nicht vom ersten Moment an so war. Denn der Masseur erinnert eher an einen Sumoringer, denn an einen Fußmasseur. Ich kann da unmöglich zuschauen und schließe die Augen. Irgendwann ist es okay und die Massage fühlt sich wohltuend an. Ein Zucken meines Körpers zeigt mir, dass ich in eine Entspannung falle. Diese dauert im Anschluss nicht lange an und ich bin wieder die Unruhe in Person. Es scheint sich nun doch eine Art Angst bemerkbar zu machen, denn schließlich geht es jetzt dann erst richtig los mit meiner Reise. Alleine und nichtwissend, wie genau ich an meine jeweiligen Ziele komme und was mich erwartet. Der Flug in die entgegengesetzte Richtung zu meinem Zuhause, das ich gerade gefühlt ja nicht mal mehr richtig habe. Ich scheine mein Umfeld mit anzustecken, denn auf einmal werden einige nervös, auch in Deutschland. Auf einmal fühle ich mich so unbeholfen und weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll – am Flughafen Beijing angefangen, Terminalwechsel in Kuala Lumpur, einen Shuttle finden in Kota Bahr, dann eine Fähre usw. Ich versuche immer wieder, meine Gedanken zu unterbrechen und die anderen reden beruhigend auf mich ein, dass alles gut wird.

Wir essen noch einmal zusammen und spielen eine letzte Runde Mah-Jongg, bevor wir uns schließlich endgültig verabschieden müssen. Eine zusammengewürfelte Gruppe, die unterschiedlicher nicht sein könnte und es doch Parallelen gibt. Eine Gruppe mit Menschen, die ich einfach in mein Herz geschlossen habe. Wir sagen, dass wir uns in Europa wiedersehen – in England, Deutschland, der Schweiz und/oder Kroatien. Wir umarmen uns und ich bin traurig und doch auch irgendwie froh, als erste abgeholt zu werden. Ich gehe zum Ausgang und Druja wartet schon. Ich sage ihm, dass wir uns eines Tages in Tibet wiedersehen. Ich steige in ein vornehmes Auto, das mich shuttelt und werde mit einem Mal ganz ruhig.